Stumm gehen wir auf dem Schotterweg, man kann die Bäume rauschen hören, in ihren Wipfeln sind kleine Singvögel emsig dabei ihre Nester zu bauen. Es regnet leicht, die Tropfen pladdern auf unsere Schirme. Wir sprechen nur leise, auch wenn wir hier niemanden stören, außer uns sind hier keine weiteren Menschen zu sehen. Wir nähern uns einer großen Wiese, in ihrem regennassen Gras stehen einige Rehe. Sie heben die Köpfe, sehen uns näher kommen, einige laufen bereits Richtung Waldrand, andere zögern noch, stehen sprungbereit, bis auch sie mit grazilen Sprüngen unter den Bäumen verschwinden. Später wird ein Schüler sagen, dass er davon überrascht gewesen sei, dass an diesem Ort des Todes heute so ein Frieden herrsche. Dass der Tod neues Leben hervorgebracht habe. Dass der Tod das Leben nicht ausschließe.
Wir befinden uns im Vernichtungslager Birkenau – Konzentrationslager Auschwitz II. Auf dieser Wiese, auf die wir wortlos blicken, wurden tausende Körper verbrannt, wochen- und monatelang qualmte das Feuer, die Asche verteilte sich in einem Radius von 15 Kilometern. Heute sieht man davon nichts mehr, nur noch wenige Steine zeigen den Grundriss des sogenannten „Weißen Hauses“, das als Gaskammer genutzt wurde, versteckt zwischen den Bäumen. Die zwitschernden Vögel, der friedliche Wald, all das lässt das furchtbare Grauen, das hier statt gefunden hat, noch schwärzer erscheinen. Wir, der Leistungskurs Geschichte Q1, halten instinktiv inne, gedenken all der namenloser Opfer, die das NS-Regime an diesem Ort ermordete.
Im Stammlager KZ Auschwitz I sehen wir im Museum das Book of names. In diesem Buch sind 4,8 Millionen Namen von Opfern aufgeführt. Es wird stetig ergänzt, denn weiterhin sind fast zwei Millionen Identitäten noch ungeklärt. Die systematische Entmenschlichung in den Lagern bewegt die ehemaligen KZ-Häftlinge und deren Nachkommen noch heute. Neben dem ständig präsenten Tod, der mörderischen Zwangsarbeit und den zahlreichen Entbehrungen, quälte die Insassen der Lager, dass sie ihrer Identität beraubt wurden. Sie hatten keinen Namen mehr, kein Gesicht, kein Ich, sondern nur noch eine Nummer. Darum sind auch die in den Lagern entstandenen Porträts, die den Menschen wieder ein Gesicht gaben, von solcher Intensität und Eindringlichkeit. In Kunstausstellungen und Führungen lernen wir viele Einzelheiten über das Lagersystem, hören von persönlichen Schicksalen und lernen eine Zeitzeugin kennen, die uns deutlich macht, was ein transgenerationales Trauma für einen Menschen bedeuten kann.
An den zwei letzten Tagen unserer Kursfahrt besuchen wir Krakau. Die Stadt ist voller Leben, es ist Frühling, die goldene Kuppel der Sigismundkapelle glänzt im Sonnenlicht, die Kinder kaufen Stoffgänse. Wir sind begeistert von den mittelalterlichen Gebäuden, die bis heute erhalten geblieben sind und staunen über die malerischen Kutschen.
Abends lernen wir das heutige jüdische Leben Krakaus bei einem kleinen privaten Konzert kennen. Die Sängerin singt „If I were a rich man“, während wir ein köstliches koscheres Essen zu uns nehmen. Die Tischdecken sind geblümt, die Bedienung ist jung, die Wände sind voller Bücher und Bilder. Wir lachen uns an, denn wir leben in Freiheit. Wir schwören einander: Nie wieder!